Der Begriff der Ideologie und das Projekt der Ideologiekritik haben eine lange Tradition, die mindestens auf Rousseau zurückgeht, vor allem aber bei Marx und Engels sowie im Marxismus zur Blüte kommt. Ein zentrales Motiv dieser Tradition können wir in der Kritik ‚verdinglichender‘ Ideologie erblicken: In ihr werden typischerweise menschliche Eigenschaften als natürliche, überzeitliche Gegebenheiten vorgestellt, die die Ideologiekritik als sozial und historisch bedingt entlarvt. Was eine solche Vorstellung zur Ideologie macht ist, dass sie durch die Verdinglichung solch sozial bedingter menschlicher Eigenschaften die Herrschaft von Menschen über Menschen als naturgegeben zu legitimieren sucht. Musterbeispiel hierfür: Die Rechtfertigung patriarchaler Herrschaft unter Verweis auf die vermeintlich naturgegebenen Charaktermerkmale und Fähigkeiten von Frauen und Männern. Besonders perfide wird eine solche Ideologie zudem, wenn sie sich im Gewand der Wissenschaft kleidet, um sich eine Aura der Objektivität zu verleihen.
Dass insbesondere Naturwissenschaften wie die Biologie für diese ideologische Funktion vereinnahmt wurden, hat manche Ideologiekritiker:innen zu einer verallgemeinerten Skepsis gegenüber naturwissenschaftlichen Erklärungen menschlichen Verhaltens und menschlicher Merkmale verleitet. Es hat sich aber auch innerhalb der Naturwissenschaften selbst eine Tradition gebildet, die deren ideologische Vereinnahmung zur Herrschaftslegitimation kritisiert. Musterbeispiel hierfür: Das Werk des kürzlich verstorbenen Biologen Richard Lewontin. Er kritisiert die Verdinglichung menschlicher Eigenschaften (wie gruppenspezifischer Intelligenz- und Verhaltensunterschiede) gleichermaßen als epistemisch fehlerhafte biologische Erklärung und – in der marxistischen Tradition – als ideologische Legitimation von Herrschaft. Wir erblicken in diesem Werk deswegen eine Engführung von Ideologiekritik und Wissenschaftstheorie, die uns auch heute noch zum Modell dienen kann.
Um zu umreißen, wie eine solche Engführung heute aussehen könnte, diskutieren wir schließlich einige neuere Entwicklungen in der Wissenschaftstheorie, die aus unserer Sicht – auch wenn sie nicht mehr ausdrücklich den Ideologiebegriff verwenden – das Projekt Lewontins beerben und insbesondere hinsichtlich der theoretischen Ressourcen weiterentwickeln, die der epistemischen Kritik dienlich gemacht werden können. Wir schließen mit einem Plädoyer für eine Wiederbelebung der ideologiekritischen Tradition im Kontext der Wissenschaftstheorie, die Lewontins Werk paradigmatisch verkörpert.
Shownotes
0:00:00 – Einstiegsanekdote:
- A Cultural History of the ‘Alpha Male’ Concept (nymag.com)
- Wolf packs don’t actually have alpha males and alpha females, the idea is based on a misunderstanding (sciencenorway.no)
00:04:15 – Raymond Geuss über Ideologie
- Geuss, Raymond, 1981. The Idea of a Critical Theory: Habermas and the Frankfurt School. Cambridge University Press.
- Haslanger, Sally, 2017, „Racism, Ideology, and Social Movements.”
00:14:20 – Tommie Shelby über ‚verdinglichende‘ Ideologie und deren Kritik
- Shelby, Tommie, 2003, „Ideology, Racism, and Critical Social Theory.“, The Philosophical Forum 34 (2): 153-188.
- Shelby, Tommie, 2014, „Racism, Moralism, and Social Criticism.“, DuBois Review 11 (1): 57-74.
- Lukács, György, 1968 [1923],: „Die Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats“, In Geschichte & Klassenbewusstsein. Studien über marxistische Dialektik. Werke, Frühschriften II, Band 2. Luchterhand.
- Block, Ned, 1995, „How Heritability Misleads About Race.”, Cognition 56: 99-128.
- Block, Ned, 1995, „Race, Genes, and IQ.”, Boston Review.
00:31:25 – Lewontin über Ideologiekritik und Wissenschaft
- Lewontin, Richard, 1991. Biology as Ideology: The Doctrine of DNA (CBC Massy Lectures Series). Anansi.
- Tooby, John & Cosmides, Leda, 2008, „The Evolutionary Psychology of the Emotions and Their Relationship to Internal Regulatory Variables”, In M. Lewis, J. M. Haviland-Jones & L. F. Barrett (Hrsg.), Handbook of Emotions (3rd Ed.), S. 114-137.
00:38:30 – Kitcher, Dupré, Lloyd, Longino: Lewontins Erb:innen?
- Dupré, John, 2001. Human Nature and the Limits of Science. Clarendon Press.
- Thornhill Randy & Thornhill Nancy Wilmsen, 1992, „The evolutionary psychology of men’s coercive sexuality.”, Behavioral and Brain Sciences 15 (2): 363-375.
- Stanford Encyclopedia of Philosophy-Eintrag zur feministischen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie.
- Kuhn, Thomas S., 1970. The Structure of Scientific Revolutions. University of Chicago Press.
- Lloyd, Elisabeth, 2001, „Science Gone Astray: Evolution and Rape.”, Michigan Law Review 99 (6): 1536-1559.
- Longino, Helen, 1990. Science as Social Knowledge. Princeton University Press.
- 2013. Studying Human Behavior: How Scientists Investigate Aggression and Sexuality. University of Chicago Press.
Intro / Outro: Thelonious Monk, «Well, You Needn’t», Oli Bott am Vibrafon.
- Folge 5: Ideologie
- Folge 4: Soziale Konstruktion und Sozialkritik
- Folge 3: Strukturelle Ungerechtigkeit
- Folge 2: Misogynie
- Folge 1: «Rasse»
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