Folge 5: Ideologie

Der Begriff der Ideologie und das Projekt der Ideologiekritik haben eine lange Tradition, die mindestens auf Rousseau zurückgeht, vor allem aber bei Marx und Engels sowie im Marxismus zur Blüte kommt. Ein zentrales Motiv dieser Tradition können wir in der Kritik verdinglichender Ideologie erblicken: In ihr werden typischerweise menschliche Eigenschaften als natürliche, überzeitliche Gegebenheiten vorgestellt, die die Ideologiekritik als sozial und historisch bedingt entlarvt. Was eine solche Vorstellung zur Ideologie macht ist, dass sie durch die Verdinglichung solch sozial bedingter menschlicher Eigenschaften die Herrschaft von Menschen über Menschen als naturgegeben zu legitimieren sucht. Musterbeispiel hierfür: Die Rechtfertigung patriarchaler Herrschaft unter Verweis auf die vermeintlich naturgegebenen Charaktermerkmale und Fähigkeiten von Frauen und Männern. Besonders perfide wird eine solche Ideologie zudem, wenn sie sich im Gewand der Wissenschaft kleidet, um sich eine Aura der Objektivität zu verleihen.

Dass insbesondere Naturwissenschaften wie die Biologie für diese ideologische Funktion vereinnahmt wurden, hat manche Ideologiekritiker:innen zu einer verallgemeinerten Skepsis gegenüber naturwissenschaftlichen Erklärungen menschlichen Verhaltens und menschlicher Merkmale verleitet. Es hat sich aber auch innerhalb der Naturwissenschaften selbst eine Tradition gebildet, die deren ideologische Vereinnahmung zur Herrschaftslegitimation kritisiert. Musterbeispiel hierfür: Das Werk des kürzlich verstorbenen Biologen Richard Lewontin. Er kritisiert die Verdinglichung menschlicher Eigenschaften (wie gruppenspezifischer Intelligenz- und Verhaltensunterschiede) gleichermaßen als epistemisch fehlerhafte biologische Erklärung und – in der marxistischen Tradition – als ideologische Legitimation von Herrschaft. Wir erblicken in diesem Werk deswegen eine Engführung von Ideologiekritik und Wissenschaftstheorie, die uns auch heute noch zum Modell dienen kann.

Um zu umreißen, wie eine solche Engführung heute aussehen könnte, diskutieren wir schließlich einige neuere Entwicklungen in der Wissenschaftstheorie, die aus unserer Sicht – auch wenn sie nicht mehr ausdrücklich den Ideologiebegriff verwenden – das Projekt Lewontins beerben und insbesondere hinsichtlich der theoretischen Ressourcen weiterentwickeln, die der epistemischen Kritik dienlich gemacht werden können. Wir schließen mit einem Plädoyer für eine Wiederbelebung der ideologiekritischen Tradition im Kontext der Wissenschaftstheorie, die Lewontins Werk paradigmatisch verkörpert.


Shownotes

0:00:00 – Einstiegsanekdote:

00:04:15 – Raymond Geuss über Ideologie

00:14:20 – Tommie Shelby über ‚verdinglichende‘ Ideologie und deren Kritik

00:31:25 – Lewontin über Ideologiekritik und Wissenschaft

00:38:30 – Kitcher, Dupré, Lloyd, Longino: Lewontins Erb:innen?

Intro / Outro: Thelonious Monk, «Well, You Needn’t», Oli Bott am Vibrafon.

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