Die Rede von sozialen Strukturen und struktureller Ungerechtigkeit ist in aller Munde. Während sie bis vor kurzem vor allem in soziologischen Seminaren und linken WG-Küchen beheimatet waren, fanden diese Begriffe im Fahrwasser des erstarkten Interesses an strukturellem Rassismus Einzug in den Mainstream der öffentlichen Debatte.
Denn Verfechter:innen dieses Begriffs behaupteten, dass Rassismus nicht bloß eine Frage individuellen Denkens und Handelns oder auch des Handelns sozialer Institutionen wie der Polizei sei. Vielmehr begreifen sie ihn als eine Art der Ungerechtigkeit, die die Weise betrifft, in der die Gesellschaft als Ganze oder deren Teile eingerichtet sind. Ähnliche Überlegungen äußern Aktivist:innen und Expert:innen auch mit Blick auf Ungerechtigkeiten, die Geschlecht oder Klasse betreffen.
Dieser Kurswechsel in der öffentlichen Debatte brachte allerdings auch Gegenwind mit sich. So wendeten kritische Stimmen gegen die popularisierte Rede von strukturellen Ungerechtigkeiten verschiedener Art ein, dass diese diffus und deswegen irreführend sei, der empirischen Grundlage entbehre und deswegen gar gefährlich sei.
Dabei ermangelt es gegenwärtig nicht an philosophischen Bestrebungen, zur Erhellung des Begriffs struktureller Ungerechtigkeit beizutragen. Zugleich drängt sich in Anbetracht der ungleichen Auswirkungen der COVID-19 Pandemie auf verschiedene Bevölkerungsgruppen der Eindruck auf, dass deren jeweilige gesellschaftliche Stellung tief- und weit greifende Ungerechtigkeiten mit sich bringt. Wir glauben deswegen, dass es sich lohnt, einen Blick auf die derzeit wieder auflebende Debatte über die verschiedenen Ausprägungen strukturelle Ungerechtigkeit zu werfen.
Aus diesem Grund wollen wir in dieser Folge das 2019 erschienene Buch Structural Injustice von Madison Powers und Ruth Faden diskutieren, das diesen Begriff systematisch expliziert und insbesondere für die Bioethik fruchtbar macht. Im Ausgang von dieser Diskussion gehen wir zudem der Frage nach, ob sich die ungleichen Auswirkungen der COVID-19 Pandemie sich als strukturelle Ungerechtigkeit verstehen lassen.
Shownotes
0:00:00- 0:00:54 – Einstiegsanekdote:
0:02:12 – Intro: Zur Autorin / zum Autor:
- Madison Powers
- Ruth Faden
- Madison Powers & Ruth Faden, Social Justice: The Moral Foundations of Public Health and Health Policy
- Madison Powers & Ruth Faden, Structural Injustice: Power, Advantage, and Human Rights
0:03:35 – Öffentliche Debatte über den Strukturbegriff
- Facetten der modernen Sozialstruktur | bpb
- Structural injustice – McKeown – 2021 – Philosophy Compass – Wiley Online Library
- Soziologin Silke van Dyk über soziale Ungerechtigkeit: „Die untere Hälfte besitzt nichts“ (taz.de)
- Vollständiges Interview: taz Talk – Silke van Dyk und Anja Krüger über den Klassenkampf von oben (youtube.com)
Exposition
0:09:55 – Ausgangspunkt des Buches
- Avery Kolers, „Social movements“
- Charles Mills, „Rawls on Race/Race in Rawls“
0:16:30 – Der Begriff des Wohlbefindens:
0:29:14 – Strukturelle Gerechtigkeitstheorien
- Iris Marion Young, Justice and the Politics of Difference
- Iris Marion Young, Responsibility for Justice
- Laura Valentini, „Ideal vs Non-Ideal Theory: A Conceptual Map“
- Charles Mills, „Ideal Theory as Ideology“
1:07:20 – Sozialstruktur und soziale Positionen
- G. A. Cohen, Karl Marx’s Theory of History: A Defense
- Erik Olin Wright, „A General Framework for the Analysis of Class Structure”
- Erik Olin Wright, „Rethinking, Once Again, the Concept of Class Structure”
- Sally Haslanger, “What is a (Social-)Structural Explanation?”:
- Elizabeth Barnes, “Realism and Social Structure”
- Katharine Ritchie, “Social Structure and the Ontology of Social Groups”
Diskussion
- Benjamin Wachtler, et al., „Sozioökonomische Ungleichheit und COVID-19 – Eine Übersicht über den internationalen Forschungsstand“
- The COVID-19 Marmot Review
- Nico Dragano et al., „Higher risk of COVID-19 hospitalization for unemployed: an analysis of 1,298,416 health insured individuals in Germany“
- Corona: Höheres Risiko für Arme | Das Erste – Panorama (ndr.de)
- Interview ǀ „Impfvertrauen ist eine soziale Frage“ — der Freitag
- Nancy Krieger, „Structural Racism, Health Inequities, and the Two-Edged Sword of Data: Structural Problems Require Structural Solutions“
- Sally Haslanger, „Failures of Methodological Individualism: The Materiality of Social Systems „
- Heiner Koch, „Social Dysfunctions“
- Joshua Cohen, „The Arc of the Moral Universe“
- Sally Haslanger, „Culture and Critique“
Intro / Outro: Thelonious Monk, «Well, You Needn’t», Oli Bott am Vibrafon.
- Folge 5: Ideologie
- Folge 4: Soziale Konstruktion und Sozialkritik
- Folge 3: Strukturelle Ungerechtigkeit
- Folge 2: Misogynie
- Folge 1: «Rasse»
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